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Medizin der Zukunft

Fachartikel von Dr. Edmund Semler

Unser moderner Lebensstil ist ein zuverlässiger Krankmacher. Besonders unser tägliches Essen und Trinken beeinflusst Stoffwechsel und Körper tiefgreifend und gilt als größter Risikofaktor für das Entstehen von chronischen Krankheiten. Das ist die Haupterkenntnis der Global-Burden-of-Disease-Studie in 195 Ländern, welche 2019 im Fachmagazin Lancet veröffentlicht wurde. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich in erstaunlich kurzer Zeit auf der ganzen Welt regionale Esskulturen weitgehend aufgelöst, was zu einer länderübergreifenden Vereinheitlichung des Essens und zu einer Uniformierung des Geschmacks geführt hat. Eine traditionelle, überwiegend pflanzenbetonte Ernährung mit gering verarbeiteten Nahrungsmitteln wurde von einer fett- und proteinreichen, energiedichten Kost mit hohem Anteil an tierischen Nahrungsmitteln und stark verarbeiteten Produkten (Zucker, Weißmehl) sowie geringem Gemüse- und Obstverzehr verdrängt. 

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Ernährungsmedizin: die Medizin der Zukunft

Obwohl die moderne Ernährungsmedizin einem materialistischen und damit beschränkten Weltbild verhaftet ist und die fundamental wichtige Bedeutung traditioneller Esskulturen verkennt, hat sie wissenschaftliche Erkenntnisse geliefert, die längst zu einem Umdenken in Medizin, Ernährungswissenschaft, Politik, Gesundheitswesen, Medien und Lebensmittelindustrie führen hätten müssen. Ernährung ist eben nicht nur der Hauptverursacher von Krankheit, sondern auch der Hauptverursacher von Gesundheit und Heilung.

Lebensmittel wie Gemüse, Nüsse, Hülsenfrüchte und Obst sind vollgepackt mit pharmakologisch wirksamen Stoffen und stellen – wie es Bircher-Benner einmal formuliert hat – ein „pharmakologisches Arsenal“ dar. Deshalb können pflanzliche Lebensmittel als effektive Medikamente eingesetzt werden, als welche sie im Gegensatz zu den Medikamenten der Schulmedizin aber ursächlich, also heilend, und nebenwirkungsfrei wirken.

Der hippokratische Ansatz, unsere Nahrung als Heilmittel anzusehen, wird durch die jahrzehntelange Praxis diätetisch tätiger Ärzte bestätigt, die bei vielen Zivilisationskrankheiten mit Ernährungstherapie bessernde bis heilende Wirkungen erzielen konnten. Unter den verschiedenen heilsam wirkenden Ernährungskonzepten nimmt »Rohkost« eine Sonderstellung ein: Sie ist die „Heilnahrung par excellence“. 

»Rohkost« als Heilnahrung

Verschiedene mit Rohkost arbeitende Ärzte haben eine stark betonte oder ausschließliche Rohkost-Ernährung nur zu therapeutischen Zwecken eingesetzt und auch empfohlen. Bei »Rohkost-Diät« handelt es sich um eine vollwertige, laktovegetabile Kostform mit einem Rohkostanteil zwischen 50 und 100 Gewichtsprozent. Sie besteht vorrangig oder ausschließlich aus rohem Gemüse, Obst, Nüssen, geringen Mengen an rohem Getreide, frischen Kräutern, kaltgepressten Pflanzenölen und Rohmilch. Je nach Krankheitszustand dürfen auch gedünstetes Gemüse, Kartoffeln und Vollkornbrot verzehrt werden. 

Heilerfolge: Ursache für das Entstehen der Rohkostbewegung

In Deutschland konnten in der von Adolf und Rudolf Just geführten Heilanstalt »Jungborn« in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts tausende Kranke erfolgreich mit Fasten und Rohkost behandelt werden. In der Schweiz erlebte der Arzt Max Bircher-Benner (1867-1939) im Jahre 1895 bei einer magen-darm-kranken Frau einen derart spektakulären Heilerfolg mit Rohkost, dass er sich fortan der Erforschung der heilenden Wirkungen unerhitzter Nahrung widmete. Der Jungborn im Harz und die von Bircher-Benner ab 1904 geleitete Klinik »Lebendige Kraft« in Zürich sind die beiden wichtigsten Ausgangspunkte für das Entstehen der Rohkost­bewegung im deutschsprachigen Raum. Es ist besonders dem Engagement von Bircher-Benner zu verdanken, dass sich die medizinische und wissenschaftliche Forschung in Deutschland in den 1920er Jahren für Fragen der Rohkost-Ernährung zu interessieren begann und infolgedessen dutzende Ärzte therapeutische Erfahrungen mit Rohkosttherapie sammelten und dokumentierten. 

Es liegen heute mehr als 120 Jahre fast ausschließlich positive ärztliche Erfahrungen mit Rohkost als Therapieform für verschiedene, auch schwerste Erkrankungen vor, sodass von gesichertem Erfahrungsgut gesprochen werden kann. Demnach lohnt sich eine Anwendung der Rohkost-Ernährung bei folgenden Krankheiten:

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  • Rheumatische Erkrankungen (rheumatoide Arthritis, Arthrose etc.)
  • Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Bluthochdruck, Angina pectoris, Atherosklerose, Herzrhythmusstörungen etc.)
  • Übergewicht, Adipositas
  • Diabetes mellitus Typ II
  • Krebserkrankungen
  • Hautkrankheiten (Ekzem, Neurodermitis, Schuppenflechte, Akne etc.)
  • Allergische Erkrankungen und Asthma
  • Kopfschmerzen und Migräne
  • Chronisches Müdigkeitssyndrom
  • Multiple Sklerose (v.a. im Frühstadium)
  • Magen-Darm-Krankheiten (Magen- und Zwölffingerdarmgeschwür, Gastritis, Verstopfung, Colitis ulcerosa etc.)
  • Leber- und Gallenerkrankungen (Leberzirrhose, Gallensteine, Gallenblasenentzündung etc.)
  • Nieren- und Harnwegserkrankungen, Prostatabeschwerden
  • Epilepsie
  • Schilddrüsenerkrankungen

Diese vielleicht erstaunlich erscheinende Liste von Krankheiten ist das Ergebnis sorgfältiger Recherchen, welche der Verfasser von 1995 bis 2006 durchgeführt hat. Dabei wurde die gesamte vorliegende deutsch- und englischsprachige Rohkost-Literatur ausgewertet. Bei bestimmten Erkrankungen im fortgeschrittenen Stadium vermag auch Rohkost keine vollständige Heilung mehr zu bewirken, sondern bestenfalls Stillstand und Linderung der Beschwerden. Je früher hier ein Versuch unternommen wird, desto größer sind die Chancen auf eine vollkommene Genesung. Es fällt auf, dass diese Indikationsliste für Rohkosttherapie identisch mit jener für das Heilfasten ist. Dies legt den Schluss nahe, dass Rohkost und Fasten ähnliche heilungsfördernde Wirkungen im Körper entfalten. Viele Rohkost-Ärzte kombinierten auch diese beiden klassischen Naturheilverfahren, indem sie ihre Patienten zuerst ein paar Tage fasten ließen und danach eine Rohkost-Periode verordneten. Erfahrungsgemäß ist die Verträglichkeit der Rohkost auch deutlich besser, wenn der Organismus durch radikalen Verzicht auf feste Nahrung für ein paar Tage entlastet wurde.

Warum hilft Rohkost bei Krankheit? 

Der wichtigste Wirkmechanismus der Ernährungstherapie liegt im Prinzip des Weglassens und damit in der Beseitigung jeder Art von Ernährungsfehlern. Mit einer Rohkost-Ernährung geht man zurück zur Wurzel unserer ursprünglichen Ernährung. Dieser Schritt sollte temporär umso radikaler erfolgen, je schwerer das Leiden ist. Das Heilpotenzial der Rohkost ist auf den Einfluss der Rohkost auf Säure-Basen-Haushalt, Bindegewebe, Kapillarfunktion, Entzündungsgeschehen, Immunsystem und Darmflora zurückzuführen.

Wissenschaftliche Studienergebnisse deuten darauf hin, dass das gesundheitsfördernde wie auch therapeutische Potenzial von Gemüse, Obst, Nüssen und Hülsenfrüchten im Wesentlichen auf dem Zusammenwirken der in einem natürlichen Lebensmittel vorhandenen Substanzen beruht. Damit sind vorrangig die sekundären Pflanzenstoffe wie Polyphenole, Anthocyane oder Carotinoide gemeint. Bei diesem Zusammenwirken handelt es sich um additive und synergistische Effekte der Pflanzeninhaltsstoffe, was in der wissenschaftlichen Literatur als »food synergy« bezeichnet wird. Dieses Potenzial geht umso mehr verloren, je mehr in das natürlich vorgegebene, komplexe Gesamtgefüge eines Lebensmittels eingegriffen wird. Der Verarbeitungsgrad ist demnach das wichtigste Kriterium für die gesundheitliche Beurteilung eines Lebensmittels. Nicht der Gehalt an bestimmten Nährstoffen.

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Ernährungstherapie: Individuelles Vorgehen erforderlich 

Je länger Ernährungsfehler als Krankheitsursachen eingewirkt haben, desto stärker muss die Heilkraft der Krankenkost sein. In schweren Fällen ist die Durchführung einer wochen- oder monatelangen ausschließlichen Rohkostphase notwendig. Diese hat prinzipiell solange zu erfolgen, als der Heilzweck es verlangt und die Psyche des Kranken es zulässt. Bei leichteren Krankheitsfällen genügt laut Bircher-Benner, der in seiner Züricher Klinik im Laufe von mehr als vierzig Jahren über 10.000 Kranke mit Rohkost behandelt hat, oftmals eine Betonung der Rohkost gegenüber Gekochtem (Rohkostanteil ca. 50%) im Rahmen einer vollwertigen Ernährung, um zufriedenstellende Ergebnisse zu erzielen. Was die Höhe des Rohkostanteils in einer gesunderhaltenden Dauerernährung betrifft, so ist diese eine Frage des individuellen Ermessens. Ein jahreszeitlich abhängiger Rohkostanteil von 30 bis 60 Gewichtsprozent der täglich aufgenommenen Nahrung im Rahmen einer vollwertigen, pflanzenbetonten Ernährung hat sich für viele (gesunde) Menschen auf Dauer als geschmacklich ansprechend, sozial verträglich, gesundheitlich vorteilhaft und praktikabel erwiesen.

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Rohkost in Therapie und Prävention: Meine sieben Empfehlungen

  1. Beginnen Sie öfters Ihre Mahlzeit mit roher Nahrung (z.B. Salat). Dies kann dem Überessen vorbeugen.
  2. Machen Sie Gemüse im rohen wie auch im gekochten Zustand langfristig zum Hauptdarsteller auf Ihrem Speiseteller und entdecken Sie dessen Vielfalt und kreative Einsatz- und Zubereitungsmöglichkeiten.
  3. Ernähren Sie sich zu 30 bis 60 Gewichtsprozent von Rohkost, im Sommer mehr, im Winter weniger. Falls notwendig bis 100%.
  4. Praktizieren Sie immer wieder einen wöchentlichen Rohkost-Tag oder essen Sie gelegentlich vormittags nur Rohkost, v.a. wasserreiches Obst.
  5. Informieren Sie sich umfassend und fundiert zum Thema Rohkost. Lassen Sie sich im Krankheitsfall von einem diätetisch erfahrenen Arzt beraten, der Heilfasten und Rohkosttherapie aus eigener Erfahrung kennt. Gerne empfehle ich Ihnen mein spannendes und fundiertes Rohkost-Buch. Das Beste der Rohkost aus den letzten 120 Jahren.
  6. Geniessen Sie (mehr) Rohkost wenn möglich in der warmen Jahreszeit, wo Sie auf regionale Lebensmittelzurückgreifen können.
  7. Machen Sie eine Rohkostperiode im Anschluss an eine Fastenkur: Der kulinarische Genuss roh zubereiteter Speisen ist nach dem Fasten unvergleichlich hoch.
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Inhalt

Umfassendes Nachschlagewerk für Ärzte, Therapeuten, interessierte Laien und für Menschen, die eine Therapie mit Rohkost in Betracht ziehen. Über 450 Seiten, inkl. umfassendem Sachregister, Abbildungen, Bildern und Grafiken. Zusammengefasst 

Rezension

In der am Institut für Ernährungswissenschaft vorgelegten Dissertation sind erstmals die historischen, therapeutischen und theoretischen Aspekte der Rohkost ausführlich und wissenschaftlich fundiert dargestellt. Dr. Edmund Semler hat die gesamte deutsch- und englischsprachige Rohkost-Literatur der letzten hundert Jahre ausgewertet. Alle rund um das Thema Rohkost relevanten Fragen sind leicht verständlich abgehandelt.

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